Jeder vierte Schüler zeigt psychische Auffälligkeiten
„Pandemie, Isolation und Krieg auf der einen Seite – Leistungsdruck, digitale Reizüberflutung, Mobbing und Versagensängste auf der anderen Seite: Kinder und Jugendliche sind immer mehr einem immensen Druck ausgesetzt, der krank machen kann“, sagt Ulrike Petermann, Theologischer Vorstand des Diakonievereins e. V. Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen. „Unsere Mitarbeiterinnen der Kita im Christophorushaus, der Evangelischen Grundschule und der Evangelischen Gemeinschaftsschule in Wolfen, aber auch der Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Bitterfeld registrieren eine erhebliche Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.“
Erfahrungen, die sich auch mit aktuellen Studien wie der bundesweit durchgeführten COPSY-Untersuchungen (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf decken. Offenbar haben Pandemie und soziale Isolation der jungen Generation einen ungleich höheren langfristigen Schaden zugefügt als Erwachsenen. Und im Abschlussbericht der AG „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ der Bundesregierung 2023 wird darauf hingewiesen, dass 73 Prozent der Kinder und Jugendlichen immer noch aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie psychisch teils schwer belastet seien!
„Die Not der Kinder und Jugendlichen wird sich auch in der Nach-Corona-Zeit nicht in Luft auflösen. Deutschlandweite Statistiken belegen, dass jeder vierte Schüler an den Schulen psychische Auffälligkeiten zeigt, die eine psychische Diagnose rechtfertigten. Eine Entwicklung, die wir leider nur bestätigen können“, so Frau Petermann weiter. Es brennt überall. Allein der aktuelle Jahresbericht der Erziehungs- und Familienberatungsstelle (EFB) des Diakonievereins spricht Bände. Die drei Psychologinnen, eine Sozialpädagogin und eine Teamassistentin bearbeiteten 2023 insgesamt 756 Fälle – 157 mehr als im Jahr zuvor! „Ein Großteil entfiel auf die vorschulische und schulische Leistungsdiagnostik und spiegelt die desolate Situation an unseren Schulen wider.“ Mangel an Lehrpersonal, Lehrer am Limit, coronabedingte Wissens- und Sozialisierungslücken bei den Schülern, übervolle Klassen mit stark heterogener Schülerschaft, die über das gedachte und machbare Maß der Inklusion hinausgehen.
Auch in der EFB waren 2023 die häufigsten Anmeldegründe Probleme mit schulischen Leistungsanforderungen und daraus resultierende Verhaltensprobleme in der Schule wie zu Hause. Ein Teufelskreis. Mangelnde Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die schulische Leistung des Kindes sinkt. Dadurch erfährt es zunehmend Kränkungen, fühlt sich als Versager. Schuldgefühle entstehen, weil es die Erwartungen der Eltern und/oder der Gesellschaft nicht mehr erfüllen kann. Nährboden für psychische Erkrankungen, deren Behandlung aufgrund mangelnder Therapieplätze und nicht ausreichender Psychotherapeuten oftmals nicht erfolgen kann. Das Kind bleibt dem Unterricht fern. Wenn es keine Hilfe erhält und den Schulbesuch immer wieder verweigert, steigt das Risiko, dass es die Schule ohne Abschluss verlässt, später arbeitslos und in die soziale Isolation gedrängt wird. Auch dies ist statistisch belegt: Innerhalb der EU hat die Bundesrepublik die vierthöchste Schulabbrecherquote – und Sachsen-Anhalt bildet hier mit einer Abbrecherquote von 11,8 Prozent trauriges Schlusslicht.
„Das Problem beginnt oft schon weit vor der eigentlichen Einschulung. Insbesondere sprachliche Entwicklungsrückstände erschweren nicht nur Kindern mit Migrationshintergrund einen erfolgreichen Start ins Schulleben. Gegenwärtig zeigt sich ebenfalls eine bedenkliche Zunahme an Kindern, die aufgrund aggressiver Verhaltensweisen nicht in einer Kita betreut werden können. Ein Problem hier, aber auch in ganz Deutschland“, sagt Frau Petermann. Und berichtet dann von der wichtigen Kooperation mit verschiedenen Beratungsstellen in der Region. Nichtsdestotrotz hat die EFB Bitterfeld hier mit der Durchführung von Diagnostik weiterhin ein Alleinstellungsmerkmal, da es neben dem schulpsychologischen Dienst keine weiteren Stellen im Landkreis gibt.
Das Interesse von Betreuungs- und Lehrkräften in Kitas und Schulen in der Region an einer Zusammenarbeit mit der EFB Bitterfeld ist unvermindert groß. Besonders an Einzelberatungen aufgrund von Leistungs- und Verhaltensproblemen. Allerdings stößt die EFB nun aufgrund der erneut gestiegenen Nachfrage nach psychologischer Leistungsdiagnostik an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Nachfrage durch Ämter, Schulen, Kinderheime, niedergelassene Psychotherapeuten und Privatpersonen unterstreicht aber die Dringlichkeit solcher Angebote. Kindheit und Jugend prägen ein Leben lang die psychische Entwicklung. Wer in jungen Jahren psychisch erkrankt, ist auch als Erwachsener psychisch stärker gefährdet als andere. „Der Anteil an Multiproblem-Familien ist hoch. Das unterstreicht noch einmal die Dringlichkeit umfangreicher Beratungsangebote auch in unserem Landkreis“, sagt Ulrike Petermann. Und verweist auf ein Zitat vom Dalei Lama: „Jede schwierige Situation, die du jetzt meisterst, bleibt dir in Zukunft erspart.“